Alexander Estis
12. Juli 2022, 22:42 Uhr
Die Hauptstadt der Folgenlosigkeit Heilbronn hat als Stadtschreiber den Autor Alexander Estis einberufen, der sich in seinen Texten mit Phänomenen des Nichtstuns, Unterlassens, Verweigerns, Aufhörens, Weglaufens – und natürlich mit der Vermeidung oder Beseitigung von Folgen befasst.
Dies ist mein letzter Bericht.
Er beginnt trivial, ja sogar auf drollige Art pedantisch, doch das Ende ist tragisch.
1. Endlich mein Romanmanuskript abgeschlossen. Welche Erleichterung. Nun zum Verlagslektor damit, was so viel heißt wie zum Teufel. Habe mir eine Pralinenschachtel gekauft zur Feier des Tages, aber als ich sie verspeisen wollte, vor meinem Sohn zurückgezogen ins Arbeitszimmer, zu triumphaler Trompetenmusik, mußte ich feststellen, daß mehr als die Hälfte der Pralinen entfernt worden war.
2. Der Lektor liest noch. Die Anspannung ist kaum zu erdulden. Wie soll ich mir die Zeit verkürzen? Etwas Neues beginnen ist in dieser Erwartung unmöglich.
3. Mein Sohn leugnet, die Pralinen entnommen zu haben. Lese »Krieg und Frieden«.
4. »Krieg und Frieden« samt Kommentar ausgelesen. Lektor schweigt.
5. Nachricht vom Lektor, ich solle zu einem Gespräch erscheinen. Kaufe mir Anzug und Hut.
6. War beim Lektor. Der Lektor hat gesagt, es sei ein bemerkenswertes Manuskript, ich solle allerdings kürzen, mindestens um ein Drittel. Oder, setzte er mit einem diabolisch-schalkhaften Lächeln hinzu, besser auf ein Drittel.
7. Bin im Ungewissen, ob ich mich geschmeichelt oder empört fühlen soll, und entscheide daher, das Manuskript meinem Sohn vorzulesen: Fast jedes Kindermärchen nämlich, das ich ihm zur Nacht vorlese, befindet er am Ende für zu kurz.
8. Mein Sohn hat nichts gesagt; mitten im Prolog mußte er zur Schule. Daher lautet mein Beschluß: zu kürzen.
9. Heute angefangen. Stellte bei kritischer Lektüre fest, daß die detailverliebten Beschreibungen ohne jedweden Schaden entfernt werden können; strich sie.
10. Eine der Hauptfiguren, der Friseur Holger, den alle »Professor« nennen, ist furchtbar geschwätzig. Er redet mit jedem, und über alles. Zum Beispiel erzählt er in Kapitel siebzehn dem Hund einer älteren Kundin, daß die Zeit erst mit dem Universum entstanden sei und daß es vorher keine Zeit gegeben habe, und das sei sogar ziemlich lang der Fall gewesen. Aber dann sei das Universum entstanden und die Zeit, wie auch alles andere, darunter zum Beispiel – und mit diesen Worten richtet er sich an die Hundebesitzerin – darunter zum Beispiel Inge, die immer diesen unnachahmlichen Kartoffelsalat mache. – Habe Holger in den letzten drei Tagen zu einem wortkargen, mürrischen Eigenbrötler gemacht, den alle »Prof« nennen.
11. Heute geht das Kürzen schlecht voran. Wollte einige philosophische Abschweifungen herauswerfen, geriet dabei jedoch ins Grübeln und schrieb vier Seiten hinzu.
12. Wüßte nicht mehr, was kürzen, ohne den Kern zu gefährden. Mein Sohn sagt: Nimm doch alle bösen Menschen aus dem Buch raus.
13. Gestern hatte ich eine Inspiration und erreichte ein Drittel. Kaufte mir zur Belohnung Pralinen, aber diesmal war noch weniger in der Packung. Schicke dem Lektor das Manuskript mit den Pralinen und der Notiz: Sie wollten ein Drittel.
14. Warte auf Mitteilung; wieder Unruhe. Versuche, aus den herausgekürzten Teilen ein neues Buch zusammenzusetzen, aber sie ergeben keinen Zusammenhang.
15. Erhalte vom Lektor die Pralinenschachtel mit einer einzigen Praline zurück; anbei die Notiz: Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war.
16. Die unzusammenhängenden Reste nenne ich »experimentelle Kurzprosafetzen« und sende sie an einen jungen Verlag.
17. Frage einen Freund, der als Romanautor außerordentliche Erfolge feiert, wie er kürze. Er verrät mir im Flüsterton, er habe dafür eine ganz spezielle Strategie: Die Partien, die er später kürzen werde, baue er schon von Anfang an bewußt in seine Texte ein; daher wisse er später ganz genau, was er streichen müsse. Ich nicke.
18. Gespräch mit Lektor. Er sagt, ich solle noch deutlich stärker kürzen. Beim Wort »deutlich« schiebt er seine Brille mit dem Zeigefinger nach oben; ich muß es also ernstnehmen, todernst, denn mit der Lektorenbrille ist nicht zu spaßen. Nach diesen Worten lacht der Lektor, ebenso ansteckend wie perfide. Noch auf der Straße höre ich aus dem offenen Fenster sein Gelächter dringen.
19. Ich setze die Kürzung fort. Jetzt geht es an die Substanz.
20. Konnte die Nacht nicht schlafen, kämpfte mit empfindlichen Zweifeln, fluchte im Halbschlaf: Ich wollte die Worte des Lektors todernst nehmen; hatte er aber nicht gesagt: stärker? Stärker im Vergleich zur vorherigen Kürzung war die jetzige ja ganz gewiß; aber war sie auch stärker im absoluten Sinne? Heißt stärker nicht, daß man bereits stark gekürzt haben müsse, um nun sogar noch stärker zu kürzen? Und war meine Kürzung vorher überhaupt schon stark? Oder war sie eher gewöhnlich, durchschnittlich, ja sogar mittelmäßig?
21. Vegetiere hin in zermürbender Unsicherheit, innerlich zerfrißt mich die Sorge. Habe meinen Sohn zu seiner Mutter gebracht, um diese Verstrickung ungestört entwirren zu können. Schlafe nur noch vier Stunden, esse einmal am Tag.
22. Erst heute erinnerte ich mich an die Bemerkung des Lektors, es sei besser, auf ein Drittel zu kürzen; ich hatte sie als unlustiges Wortspiel abgetan, doch vermutlich war genau dies seine Definition einer starken Kürzung. Ich sollte also auf ein Drittel kürzen, und danach noch stärker, und zwar deutlich.
23. Gehe ans Werk. Ich kürze nunmehr ganze Ereignisse, ganze Stränge der Handlung, ganze Figurengruppen. Holger fällt der Kürzung zum Opfer. Streiche den Prolog, lasse das Ende offen. Der Roman erhält postmoderne Leerstellen.
24. Nur noch ein Drittel ist übrig. Jetzt kann man die Kürzung stark nennen, das scheint unzweifelhaft; ich kann mich also reinen Gewissens daran machen, noch stärker zu kürzen.
25. Habe den Kern der Geschichte herausgeschnitten und den Protagonisten entfernt: Das macht die Kürzung stärker. Aber deutlich stärker muß sie werden. Und wie das erreichen?
26. Trage diese Schwierigkeit ständig mit mir herum, sodaß ich nur noch eine Dreiviertelstunde schlafe, und selbst die schlecht. Erhalte vom jungen Verlag die Zusage für die Kurzprosafetzen, aber ich darf mich davon nicht ablenken lassen.
27. Nach vielen Stunden, vielen Tagen, vielleicht sogar Wochen des Rätselns verstehe ich, wie ich eine deutliche Kürzung vornehmen kann. Ich muß alle Entwürfe tilgen und jegliche Vorarbeit und vieles andere mehr.
28. Verbrenne alle früheren Werke; das kommt der Kürzung zugute. Fühle mich durchaus befreit, möchte aber nicht dabei stehenbleiben.
29. Merke immer mehr, wie viel man noch kürzen kann. Gehe zum Friseur und zum Schneider. Halbiere die Unterhaltszahlungen für meinen Sohn. Beschränke meinen Wirkungsradius und entferne mich nicht weiter als zweihundertsiebzig Zentimeter von meinem Bett.
30. Heute kürzte ich die Dauer der Tage um acht Stunden, der Tag dauert nur noch sechzehn. Ferner kürzte ich auch die Stunden. Ein paar Minuten vor Mitternacht, um fünfzehn Uhr dreiundzwanzig, fiel mir ein grandioser Irrtum ein: Zwar hatte ich die Entwürfe vernichtet und alle Vorarbeiten zu meinem Roman, doch wußte ich ja noch darum, und wußte sogar noch von deren Inhalt. Außerdem war ich jawohl selbst, als Person, gewissermaßen eine Spur des Romans. Die Kürzung war also längst nicht vollkommen, der Lektor würde mich über die Brille hinweg anschielen und mich auslachen, ganz ohne Frage, in lautestes Hohngelächter würde er ausbrechen und mit dem Huf stampfen im Elffünfteltakt seiner Lachkrämpfe. In Furcht und Verzweiflung radierte ich die gesamte Erinnerung aus und zuletzt meine ganze Existenz. Dieser Bericht ist das einzige, was blieb.